Veröff.: (MÜLLER, M. (1996): Populationsbiologie von Artemisia annua L. - Braunschweiger Geobotanische Arbeiten, 4: 71-83.; MÜLLER, M. & D. BRANDES: Growth and development of Artemisia annua L. on different soil types. - Mitteilungen der Gesellschaft für Ökologie, 27: 453-460.)
Zusammenfassung: Die Untersuchungen zur Populationsdynamik von
Artemisia annua erfolgten sowohl unter kontrollierten Bedingungen im Gewächshaus
und in Klimaschränken als auch im Freiland.
Bei den experimentellen Untersuchungen stand zunächst das Keimverhalten
der Art im Vorder-grund. Es konnte gezeigt werden, daß Artemisia
annua innerhalb des untersuchten Temperaturbereichs von 5 °C bis 30
°C in Petrischalen auf Filterpapier mit teilweise hohen prozentualen
Anteilen keimt. Die Art stellt demnach bei der Keimung keine besonderen
Ansprüche an die Temperatur und kann recht früh im Jahr in großen
Mengen auflaufen. Die meisten Achänen keimen bei Temperaturen zwischen
10 °C und 20 °C, die Keimungsgeschwindigkeit ist bei 30 °C
am höchsten. Im Dunkeln keimt die Art bei konstanten Temperaturen
nicht, während bei Wechseltemperaturen auch im Dunkeln hohe Keimerfolge
erzielt werden. Durch die Zugabe von KN03-Lösungen mit Konzentrationen
zwischen 0,1 und 100 mM findet gegenüber Wasser keine deutliche Steigerung
der Keimung statt. Auf den Substraten Quarzsand, Elbsand und Löß
ist der Keimerfolg bei allen untersuchten Temperaturen geringer als in
den Petrischalen. Das Keimverhalten zeigt zwischen den Substraten deutliche
Unterschiede. Die Achänen keimen auf Löß schlechter als
auf den sandigen Substraten. Aus Bodentiefen größer als 2,5
cm erreichen nur noch einzelne Individuen die Bodenoberfläche.
Wie bereits von FÖRSTER (1985) vermutet wurde, erfolgt die Blühinduktion
bei Artemisia annua durch abnehmende Tageslängen. Im Klimaschrankversuch
bilden alle Pflanzen bei einer Tageslänge von 14,5 h Blütenköpfchen
aus, was etwa der Zeit zwischen dem 10. August und dem 18. August entspricht
und gut mit den Geländebeobachtungen übereinstimmt. Werden Achänen
zu unterschiedlichen Zeiten im Jahr ausgesät, zeigen die Individuen
deutliche Unterschiede beim Sproßlängenwachstum. Spät gekeimte
Pflanzen bleiben sehr klein. Sie werden bereits kurz nach dem Auflaufen
blübinduziert und beenden daher ihr Wachstum sehr rasch. Früh
gekeimten Pflanzen dagegen steht bis zum Zeitpunkt der Blühinduktion
ein längerer Zeitraum für das vegetative Wachstum zur Verfügung.
Sie werden entsprechend größer, wachsen mit höheren Wachstumsraten
und bilden eine deutlich höhere Anzahl an Blütenköpfchen
aus. Der Wachstumsverlauf der Sproßlängen aller Pflanzen läßt
sich gut mit der logistischen Wachstumsfunktion von VERHULST und PEARL
beschreiben.
Die Untersuchungen zur Wirkung intraspezifischer Konkurrenz zeigen,
daß Artemisia annua mit phänotypischer Plastizität auf
steigende Individuendichten reagiert. Die begrenzte Menge an Ressourcen
im Versuchsgefäß wird gleichmäßig unter den Pflanzen
aufgeteilt. Entsprechend nehmen Sproßlänge, Stengeldurchmesser,
Trockengewicht und Blütenköpfchenanzahl pro Individuum hyperbolisch
ab. Dagegen wird pro Versuchsgefäß (d. h. pro Fläche) eine
etwa konstante Diasporenmenge sowie eine konstante Biomasse (Gesetz des
konstanten Ertrages) er-reicht. Auch bei hohen Dichten gelangen alle Individuen
zur Samenreife. Anders ist es bei geklumpter Aussaat auf nährstoffarmem
Substrat. Hier bleibt ein hoher Anteil der Individuen vegetativ. Bei diesen
extrem dichten Beständen bilden sich bei den Sproßlängen
rechtsschiefe Verteilungen heraus. Viele Individuen bleiben klein, wenige
werden groß.
Artemisia annua kann ein besseres Nährstoffangebot zur Steigerung
der Biomasse und Diasporenanzahl nutzen. Die zusätzlichen Ressourcen
werden von der Art nicht in das Höhenwachstum, sondern hauptsächlich
in das Seitentriebwachstum investiert. Die Steigerung der Reproduktion
erfolgt durch die Erhöhung der Anzahl an Blütenköpfchen
pro Pflanze und die größere Anzahl an Achänen pro Blütenköpfchen.
Die Fähigkeit Nährstoffe zur Steigerung der Biomasse und der
Reproduktion zu nutzen, macht Artemisia annua nicht nur an Flußufern
konkurrenzfähig. Mit einer weiteren Ausbreitung in Siedlungen und
möglicherweise auch auf landwirtschaftlich genutzte Flächen (sofern
diese spät im Jahr geerntet werden) ist zu rechnen.
Die Untersuchungen im Freiland zeigten im Untersuchungsjahr drei große
Keimungswellen. Mit sinkendem Wasserstand liefen ab Mitte Mai zahlreiche
Keimlinge auf. Nach stärkeren Regenfällen im August kam es zu
einer weiteren Keimungswelle. Von diesen Individuen überlebten jedoch
nur wenige. Diese gelangten nicht zur Samenreife. Im Dezember wurden erneut
zahlreiche Keimlinge beobachtet, die aus im selben Jahr gereiften Achänen
aufliefen. Den demographischen Beobachtungen zufolge ist das Sterblichkeitsrisiko
kurz nach der Keimung sehr hoch. Viele Keimlinge und Jungpflanzen sind
wegen der Trockenheit eingegangen. Die Überlebenschance ist bei den
früh gekeimten Individuen am größten.
Im Gegensatz zu den Gewächshausuntersuchungen zeigten die Pflanzen
im Freiland keinen sigmoiden Wachstumsverlauf. Sie stellten während
der Sommertrockenheit ihr Wachstum ein. Erst nach Regenfällen im August
kam es zu einem weiteren Wachstumsschub. Lediglich die Pflanzen in einem
verlandeten Altarm, der das ganze Jahr über ausreichend mit Wasser
versorgt war, zeigten keine Beeinträchtigung des Wachstums während
der Trockenheit.
Sowohl die Diasporenproduktion als auch die Sproßlänge von
Artemisia annua sind stark vom Wuchsplatz an der Elbe abhängig. In
den sandigen Buhnenfeldern bleiben die Pflanzen klein und tragen vergleichsweise
wenig Blütenköpfchen. In den höher gelegenen Auenbereichen
auf nährstoffreichem Substrat dagegen wird die Art sehr hoch und produziert
beachtliche Diasporenmengen. Hier konkurriert sie erfolgreich mit anderen
hochwüchsigen annuellen Arten, wie z. B. Atriplex sagittata. Möglicherweise
wird letztere von Artemisia annua verdrängt.
Im Untersuchungsgebiet ist die hydrochore Ausbreitung für die
Art von großer Bedeutung. Wahrscheinlich tragen Anemochorie und Zoochorie
nur wenig zur Fernausbreitung bei. Die Achänen von Artemisia annua
können längere Zeit auf dem Wasser schwimmen, bzw. im Wasser
schweben, ohne daß die Keimfähigkeit beeinträchtigt wird.
Ein Transport mit dem Wasser über größere Distanzen ist
daher sicherlich möglich.
Die hohe Diasporenproduktion und das schnelle Wachstum ermöglichen
eine Besiedlung ruderaler Standorte. Durch den kräftigen Wuchs und
die erstaunliche laterale Ausdehnung ist Artemisia annua in der Lage, an
den entsprechenden Wuchsplätzen auch mit anderen hochwüchsigen
annuellen Arten zu konkurrieren. Aus diesem Grunde kann die Art als C-R-Stratege
bezeichnet werden.